7. Oktober 2024. Heute vor einem Jahr bin ich mit meinem Morgenkaffee nochmal ins Bett gekrabbelt, um gemütlich im Tag anzukommen. Doch nach wenigen Minuten hatte ich Herzrasen. Auf X schlugen die ersten Videos aus Sderot ein, einer israelischen Stadt nahe des Gaza-Streifens, in der Menschen auf offener Straße erschossen wurden. Alte Menschen, die an einer Bushaltestelle gewartet hatten. Menschen, die am Steuer ihrer fahrenden Autos hingerichtet wurden.
Ungläubigkeit. Wie kann es sein, dass diese Terroristen die, wie ich glaubte, bis dahin bestgeschützte Grenze der Welt überwinden konnten? Ich legte das Telefon nicht weg, weil ich die entlastende Nachricht lesen wollte, dass die Armee die Angreifer gestoppt hat und es nicht mehr Opfer gab als die von mir bereits gesehenen. Aber diese Nachricht kam nicht. Stattdessen das erste Video vom Nova-Festival, wo junge Menschen panisch weglaufen. Wovor, warum, was hat das zu bedeuten? Das war zu diesem Zeitpunkt noch unbekannt.
Die Ungläubigkeit verwandelte sich in Schock, als immer mehr Bilder und Videos offenbarten, welche Dimension dieser Angriff hatte. Mit einer unfassbaren Logistik hatten die Terroristen die Grenze überwunden, haben die sie bewachenden Soldat:innen ausgeschaltet, sind mit Motorrädern und mit Fallschirmen (!?) systematisch in die grenznahen Kibbuzim und auf das Festivalgelände eingedrungen. Wie konnte das passieren? So ein Angriff muss doch monatelang geplant und geübt werden. Wie konnten die israelischen Sicherheitsbehörden nichts davon mitbekommen haben? Und wo war die Armee, um das endlich zu stoppen?
Mittags war klar, dass die Terroristen nicht nur Menschen getötet, sondern auch verschleppt hatten. Das Video von Shani Louk, die halbnackt auf dem Deck eines Pick-Up durch eine feiernde Männermenge paradiert und bespuckt wird. Schneller als man entscheiden kann, es nicht sehen zu wollen, hat man es schon gesehen. Auch das von Naama Levy, die mit im Schritt blutbeschmierter Hose aus dem Kofferraum geholt und auf die Hinterbank eines Jeep geführt wird, um sie herum Triumphgeschrei. Meine Eingeweide zogen sich zusammen. Unmenschlich. Taub und ungläubig habe ich den Rest des Tages verbracht, Nachrichten mit meinen Freund:innen in Tel Aviv ausgetauscht, versucht zu verstehen und zu verarbeiten.
Am nächsten Tag kam zu den Knoten im Magen und im Herzen noch ein Knoten im Hirn hinzu. Denn in den sozialen Medien begann eine ungeahnte Zurschaustellung von linkem Anti-Humanismus. Mit “Free Palestine” wurden die Ereignisse auch von Menschen aus der Klima- und Degrowth-Bewegung, meiner peer-group, zu einem Widerstandskampf gegen den israelischen “Kolonialismus” stilisiert. Man stelle sich vor, nach den Anschlägen in Paris im November 2015 hätten Menschen aus dem linken, Kapitalismus-kritischen Spektrum auf das Massaker im Bataclan mit Verständnis reagiert. Und sie hätten einen Slogan verbreitet, der die IS-Attentate als Befreiungsschlag gegen den westlich-neoliberalen Imperialismus feiert. Unvorstellbar. Aber genau das ist passiert und wie sehr sich diese Haltung zu dem Massaker am 7. Oktober 2023 seither verfestigt hat, macht mich anhaltend fassungslos. Und so sitzt ein Klumpen aus Erschütterung, Trauer, Wut, Ohnmacht und Misstrauen gegenüber humanistischen Lippenbekenntnissen in meiner Brust fest.
Was haben die Hamas-Terroristen geglaubt, erreichen zu können? Welches politische Ziel schwebte ihnen vor Augen angesichts der militärischen Übermacht der israelischen Armee? Durch die Geiseln Druck ausüben, nachdem man hunderte Menschen abgeschlachtet hat?
Dass der Gegenschlag drakonisch ausfallen würde, muss ihnen klar gewesen sein. Wie drakonisch — und ja, auch unmenschlich — sehen wir jetzt seit einem Jahr. Auch bei der andauernden israelischen Offensive im Gazastreifen ist kein langfristiges politisches Ziel erkennbar. Es ist nichtmal mehr ein militärisches Ziel erkennbar, denn das müsste heißen: Waffenstillstand und Verhandlungen über die Freilassung der noch über 100 Geiseln, so sie denn noch leben. Wo kann in all dem Hoffnung auf Frieden entstehen? Ich habe größte Hochachtung vor den zehntausenden Menschen, die jeden Samstag in Tel Aviv auf die Straße gehen und ein Ende der Gewalt (auch von der eigenen Regierung) fordern, die Brücken bauen und Frieden und Sicherheit für alle Menschen der Region wollen. Möge der Funke ihrer Hoffnung nie erlischen.
Das Theaterstück habe ich nicht gesehen, aber der Satz auf dem Plakat “Wer nicht weiter weiß, hat recht” hat sofort Resonanz in mir gefunden. Ich möchte damit einen Appell verbinden: Wir sollten mehr zu unserer Verletzlichkeit stehen, zu unserem Nichtwissen und dass wir nicht vorgeben müssen, zu allem gleich eine Antwort oder Lösung zu haben.
Wir sollten uns bewusst in Ambiguitätstoleranz üben und Stopp sagen, wenn Worte fehlschlagen und Wunden nur tiefer reißen, statt zu heilen.
Im Nicht-Weiter-Wissen, im Innehalten kann der Raum entstehen, uns menschlich zu begegnen.